Erinnerungsarbeit in Europäischen Kooperationsprojekten

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Mehr als 100 Teilnehmende  trafen sich am  28. Juni 2012 im Haus der Kirche in Kassel zur Abschlussveranstaltung des Projekts „Remembering Together – Gemeinsam in die Vergangenheit reisen“. Zehn europäische Städte bzw. Regionen hatten das Projekt von 2010 bis 2012 jeweils vor Ort durchgeführt. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen präsentierte sich den Tagungsgästen eine bunte Mischung unterschiedlichster Aktivitäten und Erfahrungen. Aus Deutschland war Kassel mit einem Kooperationsprojekt von Stadt und Diakonischem Werk beteiligt. 

Eindrucksvoll – im Rückblick bringt diese Vokabel die reichen Erfahrungen dieses Tages am besten auf den Punkt. Er bot vielfältige Einblicke in ein Europa „von unten“, in das Leben von Bürgerinnen und Bürgern, die teils unter sehr widrigen Umständen erhebliche Anstrengungen auf sich nehmen, um das Leben auch mit Demenz ein wenig heller, erfüllter, besser zu machen. 

Eine lebendige Methode

Mit Reminiscence Work ist mehr gemeint, als das deutsche Wort „Biographiearbeit“ ahnen lässt. Reminiscence – das ist ein Wiederauflebenlassen, ein neu Entstehenlassen und Ausagieren von Lebensereignissen, die für die meisten Menschen in unseren Kulturräumen von herausragender Bedeutung sind: frühe Kindheit, Schulzeit und Jugendalter, die Freuden und Mühen des Erwachsenwerdens, das Suchen und Finden eines Partners bzw. einer Partnerin, Heirat als ein für viele herausragendes Lebensereignis, Familiengründung, die mittleren Jahre, das Heranwachsen einer neuen Generation etc. Das Anknüpfen an derartige Lebensereignisse hat sich in der kulturellen und kreativen Arbeit für und mit Menschen mit Demenz über Generationen, Schichten und unterschiedliche Kulturen hinweg als ungeheuer produktiv erwiesen. Reminiscence Work bezieht den ganzen Körper ein, der sich weit besser als der Verstand zu erinnern vermag. Gerüche, haptische Wahrnehmung, Geschmäcker, Musik und Töne helfen dabei, Geschehnisse von einst ins Gedächtnis zu bringen. Bei dieser Art der Erinnerungsarbeit ist nicht die Vergangenheit per se wichtig. Bedeutsam ist vielmehr die gemeinsame Vergegenwärtigung gelebter Erfahrungen in der Gegenwart. Reminiscence Work mit Menschen mit Demenz ist kein starres Konzept, sondern eine lebendige Methode, die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren kontinuierlich verändert hat, ohne ihren Grundprinzipien untreu zu werden. Längst sind künstlerische und kreative Aktivitäten und Prozesse zu einem integralen Bestandteil der Methode und des auf ihr basierenden Programms geworden. 

Projekte im europäischen Vergleich

Alle beteiligten Projektgruppen hatten die Mühe auf sich genommen und Exponate zur Tagung mitgebracht, die sie an Wänden und Tafeln präsentierten und am Nachmittag in den lebendigen Workshops mit Mitmach-Charakter vorstellten. 

Erfreulicherweise boten schon zuvor die Pausen Zeit, die Exponate mit ein wenig Muße zu betrachten und mit den jeweiligen Projektteams ins Gespräch zu kommen. Das Angebot war vielfältig: Tafeln mit „Familienbäumen“, die in einer Mischung aus Malerei, mitgebrachten Photographien und anderen visuellen Materialien im Bratislava-Projekt erstellt worden waren; die Niederlande (Amsterdam) steuerten das höchst originelle „Unterwäscheprojekt“ bei. Zu sehen waren auch zahlreiche mit großer Sorgfalt gestaltete Erinnerungskisten – um nur einige der gezeigten Beispiele und Projektergebnisse zu nennen. Die Beschäftigung mit den einzelnen Projekten und den Herausforderungen, die sie zu bewältigen hatten und wie ihnen dies (und zuweilen auch einmal nicht) gelang, lehrt vieles über mit Demenz verbundene europäische Wirklichkeiten – über das, was Menschen teilen und wo sich Erfahrungen vehement unterscheiden. Aus einer deutschen Perspektive erbringt der Blick über Gartenzäune bzw. Ländergrenzen vor allem eines: Hochachtung. Im Vergleich mit vielen anderen nationalen und regionalen/lokalen Situationen müssen die Bedingungen hierzulande noch immer als vergleichsweise günstig gelten. 

Positive Impulse trotz schwieriger Rahmenbedingungen

Vertiefende Einblicke und die Chance, eine Kostprobe der Atmosphäre und Aktivitäten in den Projekten zu erhaschen, boten die Workshops am Nachmittag. Ein Beispiel muss hier genügen: die Arbeit des Projektteams aus der Provinz Donegal  im Nordwesten von Nordirland. Schwierigen Verhältnissen lässt sich mit positiver Identifikation womöglich leichter begegnen: In T-Shirts mit den Farben und Emblemen ihrer Provinz und einer bewusst eingesetzten Prise Lokalpatriotismus berichteten die Team-Mitglieder über die Situation vor Ort. Oftmals als „the forgotten county“ – die vergessene Provinz – bezeichnet, wartet Donegal mit Rahmenbedingungen auf, die mit „schlecht“ kaum zulänglich beschrieben sind. In dem bis heute vom Bürgerkrieg zutiefst gezeichneten Landstrich liegt nach wie vor vieles an Infrastruktur darnieder. Das die Region in früheren Zeiten durchziehende Eisenbahnnetz wurde während des Bürgerkrieges komplett zerstört, die Schienen aus dem Boden gerissen und nie wieder ersetzt. Die Straßen sind in einem sehr schlechten Zustand, so dass die Überwindung der nicht allzu großen Distanzen innerhalb der Provinz zu einer echten Herausforderung wird. Um die wöchentlich anberaumten Veranstaltungen des Reminiscence-Projekts besuchen zu können, mussten Teilnehmende lange Autofahrten (über mehrere Stunden) auf sich nehmen. Die Donegal-Gruppe brachte von Demenz betroffene Menschen im Alter zwischen 45 und 85 Jahren zusammen. Vor allem diese breite  Altersstreuung stellte die Gruppenleiter vor große Herausforderungen, da auf äußerst unterschiedliche Lebenserfahrungen, Interessen und Orientierungen eingegangen werden musste. Gleichwohl wurde das Programm von den Teilnehmenden als sehr positiv erlebt. Die Aktivitäten werden nach Projektende teilweise in einer Tageseinrichtung der Alzheimer Gesellschaft (an einem anderen Ort) weitergeführt. 

Es geht weiter

Begleitet von einem stürmischen Unwetter ging die Tagung mit gemeinsamem Singen und guten Wünschen für das beantragte Anschlussprojekt zu Ende. Die Federführung für das Projekt Remembering Together lag beim UK-basierten Europäischen Reminiscence Network. Ermöglicht wurde es durch eine EU-Förderung (Generaldirektion Bildung und Kultur, Grundtvig-Programm Lebenslanges Lernen). Die Koordination lag in den Händen von Pam Schweitzer, die sich seit vielen Jahren für diese Art der Erinnerungsarbeit engagiert. 
 
Pünktlich zur Tagung ist auch die sehr schöne Website des Projekts online gegangen. Hier sind nicht nur die allgemeinen Informationen zum europäischen Netzwerk zu finden, sondern auch detaillierte Berichte und Einblicke in die Arbeit der beteiligten Partner. Derzeit leider nur auf Englisch – für einen gewinnbringenden Besuch dürfte ein mittleres Schulenglisch aber mehr als ausreichen: Link zum ERN-Projekt