Alle wollen wohnen

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Peter Wißmann über zukunftsorientierte Trends bei Wohnformen und einen neuen Generationenvertrag

Das Wohnen beziehungsweise die Wohnung ist ‚zentrales Kulturereignis, Inszenierungsform des privaten Alltags schlechthin’ , intimer Ort, Schutz- und Rückzugsraum. Umso wichtiger, sich über das Wohnen in kommenden Situationen, vor allem im Alter, Gedanken zu machen. Über betreutes Wohnen, Wohnraumanpassung , Seniorenresidenzen und dergleichen mehr wurde bereits oft geschrieben. Richten wir unsere Aufmerksamkeit daher heute einmal auf einige andere Aspekte des Themas.

Selbst initiativ werden

Niemand weiß, was das Alter für einen jeden von uns mit sich bringt. Mit achtzig an der Ostsee auf dem Surfbrett oder mit siebzig immobil und bettlägerig – beides und vieles anderes ist möglich. Es ist bekannt, wie die meisten Menschen mit dem Thema Wohnen im Alter umgehen: Solange es noch nicht so weit ist, lieber keine Gedanken daran verschwenden. Erst später. Leider ist das dann oft zu spät. Statt aktiv Situationen gestalten zu können ist man dann vielleicht nur noch Opfer eines nicht mehr kontrollierbaren Prozesses, bei dem die Gefahr groß ist, genau dort zu landen, wo man keinesfalls hinwollte. Zum Beispiel im Heim.

 Frühzeitiges Handeln, beispielsweise seine Wohnung anzupassen oder sich nach einem schönen Seniorenwohnhaus umzuschauen, macht deshalb durchaus Sinn.Man könnte aber auch das tun, worüber in vielen privaten Runden immer wieder – wenn auch meistens leider folgenlos - geredet wird: sich mit Freunden und anderen nahestehenden Personen zusammentun und bereits weit vor Eintritt des Alters zukunftsorientierte private Wohn- und Unterstützungsnetzwerke aufbauen. Das muss nicht unbedingt auf eine Wohngemeinschaft, also auf ein gemeinschaftliches Leben in einer Wohnung, hinauslaufen. Aber man könnte beispielsweise mit befreundeten Familien oder Paaren Wohnungen im selben Haus mieten oder kaufen. Oder sich gemeinsam ein Haus kaufen und teilen. Wie wollen wir es halten, wenn einzelne oder alle pflegebedürftig werden? Finanzieren wir gemeinsam Haushaltshilfen und andere Unterstützungspersonen oder wie wollen wir es regeln? Diese und ähnliche Fragen wären dann zu regeln.  Seltsam, dass so viele Menschen von solchen Optionen reden, die wenigsten sie aber tatsächlich auch umsetzen. Natürlich gibt es Schwierigkeiten: Mit fünfzig und noch mitten im Berufsleben stehend sind dauerhafte örtliche Festlegungen oftmals nur schwer zu treffen. Doch trotz aller realen Hindernisse liegen in solchen Strategien von Privatpersonen große Chancen. Man könnte auch sagen: Sie passen gut in eine Zivilgesellschaft, in der die Bürger/innen ihre Belange nicht komplett an Institutionen delegieren und aus der Hand geben wollen.   Und nichts spräche dagegen, sie durch ‚künstlich inszenierte’ Wohnsettings wie beispielsweise Mehrgenerationenprojekte zu ergänzen. 

Alt und dement

Für ältere, pflegebedürftige und demenziell veränderte Menschen wird es immer wohl auch andere Wohn- und Betreuungsformen geben müssen. Doch weil fast alle Menschen im vertrauten Umfeld und nicht in Institutionen leben möchten, sollte vor allem an Formen wie betreute Wohngemeinschaften oder an Leben in Gastfamilien gedacht werden. Diese werden manchmal als Nischenangebote für wenige Menschen bezeichnet. Doch viele Wenige sind auch ganz schön Viele! Würde die Energie, die auf Überlegungen zum Ausbau oder zur Verbesserung stationärer Versorgungssettings verwandt wird, auf die Ideenfindung zum Thema quartiersbezogene, ‚alternative’ und quasi-familiäre Wohnformen übertragen – wo würden wir heute vielleicht schon stehen?!Dort, wo sich Heim(ähnliche) Strukturen nicht vermeiden lassen sollten, müssen die Einrichtungen als offene und mit dem Gemeinwesen eng verknüpfte Einheiten ausgerichtet werden. So entsteht beispielsweise im schwäbischen Ostfildern ein „Nachbarschaftshaus“. Stationäre Hausgemeinschaften für Menschen mit Demenz, eine ambulant betreute Wohngemeinschaft, ein offener Bürgertreff, eine Tagespflege, Wohnungen für behinderte Menschen, ein Offenes Kunstatelier und andere Elemente wollen hier unter einem Dach zusammenleben und vernetzt in den Stadtteil wirken. 

Ein neuer Generationenvertrag

Niemand, der über viele Jahrzehnte in unserem Dorf (bzw. in unserer Stadt) gelebt hat, soll im Falle von Pflegebedürftigkeit von hier weg und aus der Gemeinschaft herausfallen müssen! Mit dieser Aussage haben die Orte Eichstetten und Ettenheim (Baden-Württemberg) bereits vor vielen Jahren begonnen, eine Art neuen Generationenvertrag zu definieren. In der Folge sind, initiiert von Bürger/innen und der Politik, tragfähige Netze und Formen der Sorge für die älteren, unterstützungsbedürftigen und demenziell veränderten Bürger/innen entstanden, die Vorbildcharakter haben. Selbst wenn die kognitiven Einbußen sehr stark sind: man lebt weiterhin in der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft und bleibt dort präsent. Die beiden Orte zeigen, dass es geht! Einfach kopieren funktioniert zwar nicht. Aber den Grundgedanken aufnehmen und auf seine Gegebenheiten vor Ort übertragen – das wäre eine lohnende Aufgabe für alle Gemeinden, die sich ihrer Verantwortung für eine zukunftsorientierte Sozialplanung stellen wollen. Und mit Gemeinde ist keineswegs nur die Politik, sondern sind auch alle Bürger/innen und Gruppen im Gemeinwesen gemeint. 

Mix oder Differenzierung?

Die genannten Beispiele stehen für die Leitidee des Miteinanders von ‚starken’ und ‚schwachen’ Bürger/innen, für den ‚Mix’ statt für die Trennung von Personengruppen. Der Trend in der Sphäre der Pflege, Versorgung und Betreuung ist ein anderer. Immer stärkere Differenzierung und Trennung ist hier der Maßstab. Sicherlich können manche spezielle Schutzräume für pflegebedürftige oder demenziell veränderte Menschen – z.B. Pflegeoasen – unter bestimmten Bedingungen sinnvoll und angebracht sein. Aber weist der allgemeine Trend zur immer weiteren Differenzierung nicht in eine falsche Richtung? Nämlich in die der Entsolidarisierung und ‚Entlebendisierung’ (Achtung! Wortneuschöpfung)? Ganz ehrlich: Möchten Sie als Senior wirklich in einem Altendorf – so etwas gibt es ja tatsächlich – leben? Oder im Fall einer Demenz eine Heimkarriere nach folgendem Muster durchlaufen: Einstieg im Wohnbereich für ‚fitte’, Aufstieg in den Bereich für verhaltensauffällige und – ja, was dann? – Abstieg (?) in den Bereich für fortgeschrittene Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase durchlaufen?

Werden wir immer differenzierter und damit professioneller – oder befinden wir uns einfach auf einem Irrweg? Wenn ja: Dann bitte volle Kraft voraus zurück. Denn zurück ist dann vorne.   Peter WißmannGeschäftsführer der Demenz Support Stuttgart gGmbHHerausgeber von demenz.DAS MAGAZIN in einem Leitartikel für das Norddeutsche Journal für Wohn- und Pflegegemeinschaften 2011