Im Kino: Vergiss mein nicht

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Vom Balkon ihres Hauses winken die Eltern Gretel und Malte und begrüßen die Ankommenden. Sohn David hat sich entschieden, wieder ins Elternhaus einzuziehen; er löst den Vater bei der Pflege seine Mutter ab, um ihm damit eine Auszeit in der Schweiz zu ermöglichen und beginnt mit seinem Dokumentarfilm. Gretel lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren mit Alzheimer. Mit dem Einverständnis der Familie begleitet David Sieveking über eineinhalb Jahre lang den langsamen Rückzug seiner Mutter ins Vergessen und macht dabei auch Entdeckungen in der eigenen Familiengeschichte. 

Begleitet von seinem Kameramann dokumentiert der Regisseur die Schwierigkeiten der alltäglichen Pflege und Fürsorge. Er beobachtet genau und geht offen mit schwierigen Situationen um. Die Kamera bleibt dicht dran an den Protagonisten, ohne aufdringlich oder indiskret zu werden. Während wir Gretel und allmählich auch die anderen Familienmitglieder kennenlernen, stellen sich stets neue praktische und grundsätzliche Fragen, die sich bei der Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz ergeben. Verschiedene Modelle werden ausprobiert: Betreuung durch eine junge Frau aus Osteuropa, dann in ein Heim und wieder der Versuch, zuhause die optimalen Bedingungen zu schaffen. Die Familie diskutiert die Folgen mit grosser Sorgfalt. 

Erzähler David ist vor und hinter der Kamera präsent. Im Off kommentiert er das Geschehen und reflektiert dabei gleichermaßen aufrichtig und behutsam die eigenen Gefühle wie auch die der andern Beteiligten. Er lässt sich Zeit für einen der bewegendsten Momente: Gretels Zustand hat sich trotz Therapie und Medikamenten rapide verschlechtert und während der Therapiesitzung in der die reduzierte Wahrnehmung von Gretel anhand einfacher Übungen deutlich wird, bleibt die Kamera lange auf dem begleitenden Malte, der sichtlich erschöpft im Hintergrund sitzt. Schweigsam und doch beredt – in seiner Mimik spiegelt sich der große Schmerz, der hier bewusst wird wo er zusehen und irgendwann auch akzeptieren muss, dass sich seine einst so kluge und schöne Lebensgefährtin nun aus der Welt zurückzieht. Gretel verschliesst die Augen und wird von der Therapeutin mehrfach aufgefordert, sie zu öffnen, doch sie hält sie fast trotzig geschlossen – ein Sinnbild für die schwer zu ertragende Entwicklung, absehbar und nicht aufhaltbar. 

Durch die Krankheit der Mutter wird das Interesse des Sohns an ihrer Vergangenheit geweckt. Im Verlauf des Films entfalten sich nicht nur biographische Details aus dem mit Zeugnissen und Dokumenten belegten selbstbewussten Leben der Mutter, die sich aktiv und politisch mutig in den Protestbewegungen der 60iger und 70iger Jahre engagierte. Die private und emotionale Reise in die Vergangenheit mit der freien Ehe der Eltern, mit Krisen und Prüfungen bildet auch eine spannende Phase deutscher Geschichte ab.

So wie der Film einerseits objektiviert, so ist er andererseits erst möglich als liebevolle Annäherung. Mein Vater und wir Kinder lernen von meiner Mutter, wie wichtig und kostbar es ist, sich Liebe unmittelbar zu zeigen, echte Nähe und Intimität zuzulassen und uns einfach einmal gemeinsam in den Armen zu liegen“, bekennt David Sieveking. Kleine Gesten und die heitere, entwaffnende Freimütigkeit, mit der sich Gretel durch manchmal ersichtlich mühsame Situationen rettet, bilden eine Art Gegengewicht zur Überforderung für die Familie im Pflegenotstand. Mit ihrer Herzlichkeit vermittelt Gretel ihren Nächsten eine emotionale Kraft, mit der sie sich den Herausforderungen zu stellen vermögen und sich darüber hinaus neu einander zuwenden.

So gerät die Auseinandersetzung mit dem Verlust zur Liebeserklärung und ergibt neuen Zusammenhalt. 

Zum Film ist ein gleichnamiges Buch erschienen, in dem der Autor andere Akzente setzt: so verarbeitet er hier beispielsweise auch die letzte Phase bis zum Tod der Mutter und er vermittelt mehr medizinisch-sachliche Informationen als im Film.

"Vergiss mein nicht: Wie meine Mutter ihr Gedächtnis verlor, und ich meine Eltern neu kennenlernte" von David Sieveking. Herder Verlag

Termine der Kino- und Buchtour auf der Website des Verleihs.                                      
cev

Vergiss mein nicht
Deutschland 2012
Länge 88 Min.
Regie David Sieveking
Mitwirkende / DarstellerInnen Familie Sieveking, Adrian Stähli (Kamera), Juri von Krause und Johannes Schmelzer-Ziringer (Ton), 
Produktion: Lichtblick Media GmbH und Film- und Fernsehproduktion GmbH Köln
Verleih: Farbfilm Verleih
Internet: http://vergissmeinnicht-film.de